Das Silicon Valley stellt für viele, die eine Leidenschaft für Technologie und innovative Ideen empfinden, das Mekka der Start-up-Kultur dar. Folglich war auch ich voller Enthusiasmus und Ungeduld als ich im Frühjahr 2016 meine Praktikumszusage von einem kleinen Startup im Herzen von San Francisco erhielt.
Meine persönlichen als auch fachlichen Erwartungen an mein Auslandspraktikum waren sehr hoch. Bereits lange vor meiner Abreise las ich vereinzelt Bücher über das Silicon Valley und verschaffte mir einen Überblick über die gesamte Gegend. Zentral war für mich dabei insbesondere die Teilnahme an unternehmensexternen Programmen und Veranstaltungen. Dies ermöglichte mir nicht nur das Knüpfen wertvoller Kontakte, sondern auch den Ausbau meiner fachlichen Kompetenzen in einer erstklassigen Umgebung. Projekte mit Stanford-Studenten sowie NASA- und Google-Praktikanten taten dieser Erwartung mehr als Genüge.
Darüber hinaus erhielt ich durch das intensive Mentoring von verschiedenen Teammitgliedern wertvolle Einblicke in die Organisations- und Motivationsstrukturen eines amerikanischen Unternehmens. Insbesondere die Risikokapitalfinanzierung der vielen – im Silicon Valley beheimateten – Unternehmen weckte in diesem Zusammenhang mein Interesse. Spannend fand ich die diesem Konzept zugrundeliegenden Investorengespräche und die daran anknüpfenden Netzwerkstrukturen. Erfreulicherweise fand während meines Aufenthalts tatsächlich eine solche Investitionsrunde statt, was mir zahlreiche Chancen für Fragen bot. Der bilaterale Austausch mit dem CEO trug über die Zeit erheblich zu meinem Wissens-und Erfahrungsschatz bei, deren Anwendung ich in meiner zukünftigen beruflichen Karriere geduldlos entgegensehe.
San Francisco ist in vielerlei Hinsicht eine sehr außergewöhnliche Stadt. Die überwiegende Mehrheit der Menschen europäischer, südost-asiatischer oder indischer Abstammung, die mittlerweile dort wohnhaft sind, hatten von Beginn an nur ein Ziel: ein erfolgreiches Unternehmen gründen. Folglich ist die prädominante Mentalität geprägt von Offenheit sowie Entschlossenheit, aber v. a. Leistungsbereitschaft – Arbeiten an Wochenenden war mehr ein Standard als eine Ausnahme. Überraschend fand ich allerdings – trotz der vielen Berichte über dieses Phänomen – die hohe Quote der Schul- bzw. Studienabbrecher: So stellte sich heraus, dass alleine in dem sechsköpfigen Team zwei vorzeitig ihre Ausbildung beendeten; davon war einer der Gründer selbst, der mittlerweile Vorträge und Seminare in Stanford hält. Als ich ihn darauf ansprach, erklärte er mir, dass ihm das Lehrtempo an Universitäten zu langsam war und er seine Zeit effektiver nutzen wollte. Ferner wollte er nicht an statische Lehrpläne gebunden sein und präferierte daher ein autodidaktisches Lernformat. Schließlich gab es auch Fälle, die aus finanziellen Gründen ein Studium nicht aufnehmen konnten, was in den USA aufgrund der horrenden Studiengebühren durchaus nachvollziehbar ist. Beeindruckend fand ich trotz allem, dass dies für die Mehrheit mitnichten ein Grund war, aufzugeben. Immer wieder wird sich an Idole wie Steve Jobs erinnert und dem sog. amerikanischen Traum nachgegangen.
Ferner sind in der Bay Area zwei der weltweit renommiertesten Universität zu finden – University of Berkeley und Stanford University –, was dazu führt, dass das Treffen von außergewöhnlichen Persönlichkeiten auf Dauer zur Normalität wird. Dies rangiert von Weltmeistern im Kreuzwortpuzzlelösen bis zu Gold-Medaillen-Gewinnern bei den Olympischen Spielen.
Trotz allem darf aber auch die Kehrseite dieser atemberaubenden Internetmetropole nicht ignoriert werden, denn die zunehmende Spaltung der amerikanischen Gesellschaft und damit die graduelle Auflösung der sozialen Mittelschicht sind in der Technologie-Hauptstadt der Welt ziemlich deutlich zu beobachten. Insbesondere teure Mietpreise erschweren Ansässigen mit durchschnittlichen Gehältern einen zufriedenstellenden Lebensstandard. Repräsentativ lässt sich dabei meine eigene Unterkunft als Beispiel heranführen: Ein Platz in einem Mehrbettzimmer mit drei weiteren Mitbewohnern kostete monatlich 800 US-Dollar. Damit war ein etwa 16 Quadratmeter großes Zimmer für umgerechnet 3200 US-Dollar zu haben. Dies ist verständlicherweise für die Vielzahl der arbeitslosen Menschen ein Belastungsfaktor, der sich im Endstadium – natürlich unter Berücksichtigung anderer sozialer Probleme – in teils exzessivem Drogenkonsum und anderweitiger Kriminalität manifestieren kann. Die Innenstadt ist in logischer Konsequenz überlaufen von Obdachlosen, was allgemein zu einem beunruhigenden Ambiente beiträgt, sofern man sich nicht gerade in den von Touristen eroberten Einkaufsstraßen aufhält.
Insgesamt fand ich allerdings die berufsrelevante Atmosphäre sehr positiv: Vor allem der Erfahrungs- und Wissensaustausch mit meinen Mitbewohnern war außerordentlich bereichernd. Wir unterhielten uns nicht nur über zu erwartende technische Innovationen, sondern auch über gesellschaftliche und politische Themen, wie beispielsweise die bevorstehenden Präsidentschaftswahlen. Grundsätzlich lässt sich also folgendes festhalten: Wer eine Affinität zum Unternehmertum hat, wird sich hier sehr wohlfühlen. Schließlich kann ich überzeugt sagen, dass die Zeit in San Francisco einen erheblichen Beitrag zu meinen Berufsvorstellungen geleistet hat, mir gleichzeitig aber zeigte, wie viel Arbeit mir noch bevorsteht.
Muhammed Gülen ist Stipendiat des Avicenna-Studienwerks und studiert Internationale Betriebswirtschaftslehre an der WHU – Otto Beisheim School of Management.