„Durch das Stipendium habe ich mir ein unfassbares Netzwerk mit gleichgesinnten, ambitionierten und talentierten jungen Muslim:innen aus allen unterschiedlichen Studienrichtungen aufbauen können. Dies hat nicht nur meinen Horizont erweitert, sondern auch meinen Charakter geformt und mich zu der Person gemacht, die ich heute bin.“
Wie kam es zu Deiner Bewerbung um ein Stipendium des Avicenna-Studienwerkes?
Ich habe mich bei Avicenna beworben, als ich 21 Jahre alt war. Ehrlich gesagt, habe ich mir damals nicht viele Chancen zugerechnet, da wir familiär gerade eine schwere Zeit hatten und ich meinen Bachelor schon fast abgeschlossen hatte. Meine ältere Schwester, die zugleich eine meiner größten Vorbilder und Mentoren ist, hat mir sehr viel Mut zugesprochen und so kam es schließlich zur Bewerbung.
In der Bewerbung und anschließend im Auswahlgespräch habe ich dann meine Umstände in allen Details geschildert. Ich bin die zweitälteste von sechs Kindern und musste nach der schweren Erkrankung meiner jüngsten Schwester den Studienort wieder zurück in die Heimat, Hamburg, wechseln. Neben den zahlreichen Vorlesungen und Praktika bestand mein Leben nur noch aus Krankenhausbesuchen und Dolmetschen, sowie der Erziehung von drei jüngeren Geschwistern im Alter von drei, zehn und 14 Jahren. Unter solchen Umständen baut man Resilienz auf und lernt jede Sekunde seiner Zeit sinnvoll zu nutzen. Es war alles andere als leicht, den anspruchsvollen Vorlesungen mit voller Aufmerksamkeit zu folgen, während die Gedanken zur schwer erkrankten Schwester abschweiften. Dennoch habe ich einen Semesterdurchschnitt von 1,0 unter solchen Umständen geschafft. Das alles habe ich auch bei den Auswahlgesprächen erzählt und das Stipendium erhalten. Ich bin sehr dankbar, dass das Avicenna-Studienwerk auch die äußeren Umstände berücksichtigt und meinem familiären Engagement Anerkennung geschenkt hat.
Welche Erfahrungen hast Du im Rahmen des Stipendiums gemacht?
Durch das Stipendium habe ich mir ein unfassbares Netzwerk mit gleichgesinnten, ambitionierten und talentierten jungen Muslim:innen aus allen unterschiedlichen Studienrichtungen aufbauen können. Dies hat nicht nur meinen Horizont erweitert, sondern auch meinen Charakter geformt und mich zu der Person gemacht, die ich heute bin. Das Treffen auf Stipendiat:innen aus renommierteren Universitäten hat beispielsweise dazu geführt, dass ich mir mehr zutrauen konnte, da das „Unmögliche“ plötzlich nicht mehr so fern und unerreichbar schien. Heute studiere ich im letzten Master Semester an der Universität Heidelberg und konnte meiner Passion, der Stammzellforschung, an der renommiertesten Universität Deutschlands nachgehen. Die Förderung hat mir auch gezeigt, dass man den Mut haben sollte, seinen Träumen, egal wie verrückt sie scheinen, stets nachzugehen. Ich persönlich dachte, dass das Praktikum an der Cambridge University der Höhepunkt meiner Karriere sei, doch auf Cambridge UK folgte Cambridge US. Und so kam es dazu, dass ich letztes Jahr zu dieser Zeit an neuronalen Stammzellen am MIT forschen durfte.
Eine weitere Erfahrung in der Förderung, die ich nicht vergessen werde, ist die ideelle Förderung des Studienwerks. Unter diesem Konzept habe ich die interessantesten Gespräche und Diskussionen geführt und wenn ich an den interdisziplinären Wissensaustausch zurückdenke, wird mir immer wieder klar, dass ich es nicht zuletzt durch das Avicenna-Studienwerk gelernt habe, über den Tellerrand hinaus zu schauen.
Neben einzigartigen Freunden, philosophischen Lebensinterpretationen und guten Vorbildern hat mich das Studienwerk auch persönlich unterstützt. Die Geschäftsstelle ermutigte mich zur Bewerbung für das „Karriereförderprogramm für Frauen der Begabtenförderungswerke“ (KFP) des Cusanuswerks. Als Frau (in der Wissenschaft) steht man sehr oft vor großen Hürden und muss nicht selten gegen Vorurteile und Stereotypen ankämpfen. Durch das Mentoring im KFP durfte ich von erfahrenen weiblichen Führungspersönlichkeiten lernen mit diesen Problemen umzugehen und gleichzeitig auch Lösungen zu diesen Problemen zu schaffen.
Wo siehst Du Dich in der Zukunft?
Diese Frage fällt mir tatsächlich nicht leicht. Ich habe oft Zukunftspläne geschmiedet und hatte eine sehr klare und strukturierte Vorstellung davon, wo ich mich beispielsweise in fünf Jahren sehen möchte. Je unerfahrener man ist, desto statischere Ziele hat man. Neulich habe ich mir meine Ziele für 2020 durchgelesen, die ich vor fünf Jahren aufgeschrieben hatte- ich konnte einfach nicht anders als schmunzeln. Sicher ist das Jahr 2020 mit der Pandemie kein guter Maßstab, aber das Leben steckt voller Überraschungen. Wir sollten offen und flexibel sein, diese Überraschungen auf uns zukommen zu lassen. Neue Bekanntschaften, neue Lebensumstände, ein neues Umfeld und viele weitere Erneuerungen warten an jeder Ecke. Ich weiß für mich nur, dass ich auf jeden Fall promovieren werde. Ob ich dann in Zukunft eine renommierte neuronale Stammzellforscherin, Gründerin eines BioTech Startups, Projektmanagerin für humanitäre und soziale Projekte in Sachen Uiguren, oder meine Nische eventuell in der Politik finden werde, überlasse ich ganz dem Zufall. Und wer weiß, vielleicht bin ich ja wie viele Frauen multitaskingfähig.